*Eine kleine Information vorweg: Am Ende des Beitrags äußere ich mich zu meiner sehr offenen Auslegung des Begriffs „Antiheld“.*
Gute Antihelden sind vielseitig. Mal kommen sie den Charakteristika eines Helden näher, mal denen eines Bösewichts. Manchmal verschwimmen diese Grenzen auch völlig, manche Figuren springen zwischen diesen Kategorien hin und her und gar manche machen im Verlaufe eines Films eine Entwicklung durch und offenbaren sich am Ende erst als etwas anderes als das, wofür wir sie zu Beginn eigentlich gehalten hatten. Diese Vielseitigkeit wie aber auch Unberechenbarkeit macht einen modernen Antihelden aus und gerade das ist auch so interessant an ihm als Filmfigur. Er bricht mit dem Schubladendenken von Gut und Böse, beschäftigt uns als Zuschauer aber gerade deshalb umso mehr, weil eine klare moralische Einordnung entfällt und wir uns folglich mit den positiven, wie auch negativen Facetten des Antihelden auseinandersetzen, um sie mit unserem persönlichen moralischen Kompass abzugleichen.
Es gibt viele berühmte Beispiele, die bereits unzählige Male besprochen wurden: Travis Bickle aus „Taxi Driver“, Han Solo aus „Star Wars“, Vincent Vega und Jules Winnfield aus „Pulp Fiction“, Léon aus „Léon der Profi“, Michael Corleone aus „Der Pate“ oder egal welcher Clint Eastwood Westernheld, um nur mal ein paar zu nennen. Im Folgenden würde ich daher ganz gerne einmal auf neuere Umsetzungen von Antihelden oder Figuren mit Charakterzügen von Antihelden hinweisen, die noch nicht diesen ikonischen Status erlangt haben. Ich hoffe anhand dessen wird ersichtlich, wie vielseitig sie zum Einsatz kommen.
Drive (2011) – Der Fahrer
Den Einstieg macht eine Ambivalenz, die deutlicher nicht sein könnte. Auf der einen Seite verspürt die Hauptfigur gegenüber Irene und ihrem Sohn einen Beschützerinstinkt und ist auch zu so etwas wie Liebe fähig. Auf der anderen Seite ist er ein Mann weniger Worte, der tief in illegalen Machenschaften steckt und übertriebene Gewalt anwendet ohne mit der Wimper zu zucken. Bestes Beispiel hierfür ist die Aufzugsszene: Im einen Moment stellt er sich schützend vor Irene und küsst sie zum ersten und gleich letzten Mal, und keine Sekunde später stampft er den Schädel eines Kopfgeldjäger zu Brei. Diese Szene zeigt auch hervorragend, dass er bereits zu sehr von der Dunkelheit befallen ist und er keine Chance auf ein normales Leben hat.
Oldboy (2003) – Oh Dae-su
Hier haben wir eine klassische Konstellation zwischen Antiheld und Bösewicht. Nachdem Oh Dae-su entführt und für 15 Jahre gefangen gehalten wird, wird er eines Tages plötzlich frei gelassen. Natürlich möchte er sich bei der Person rächen, die ihm das angetan hat und dadurch schlagen wir uns ziemlich leicht auf seine Seite, auch wenn er alle Mittel der Gewalt für sein Vorhaben anwendet. Auf der Suche nach Antworten wird dieses Verhältnis zwischen Antiheld und Bösewicht aber nochmal gehörig durchgerüttelt bis man sich fragt, wer eigentlich der Böse ist und wer sich hier an wem rächt.
Training Day (2001) – Alonzo Harris
Alonzo Harris ist dahingehend eine bemerkenswerte Figur, da er im Laufe des Films ganz langsam sein wahres Gesicht zeigt. Erst will er einem weiß machen, dass er bloß ein harmloser Drogenmittler ist, der die Sprache der Straße spricht und nur so in L. A. für Ordnung gesorgt werden kann. Es wirkt also so, als hätte er nur das Allgemeinwohl im Sinn und als wäre nichts dabei sich dafür ein klein wenig selbst zu bereichern. Typische Charakterzüge für einen Antihelden eben. Doch ehe man sich versieht entpuppt er sich als eigentlicher Bösewicht des Films, denn er ist nicht nur schwer korrupt, sondern ist sich auch für keine drastische Maßnahme zu schade, um seinen eigenen Hintern zu retten, was auch das Einzige ist, dass ihn interessiert.
Nightcrawler (2014) – Louis Bloom
Diese Figur ist die für mich persönlich hassenswerte auf dieser Liste und während andere Antihelden sich darum bemühen, dass man irgendwo zu einem gewissen Zeitpunkt doch ein wenig Sympathie für sie empfindet, ist man von Louis Bloom einfach nur angewidert. Beeindruckend bleibt allerdings, wie er einen dennoch in seinen Bann zieht und wie man sein schamloses Treiben über die gesamte Filmlänge fasziniert verfolgt.
Whiplash (2014) – Terence Fletcher
Diese Figur ist besonders schwierig einzuordnen. Als Musiklehrer, der aus seinen Schülern das meiste herausholen und das nächste Jazz-Ausnahmetalent entdecken möchte, kann er sich zunächst einmal wenig ankreiden lassen und verfolgt damit ein erstrebenswertes Ziel. Immerhin gelingt ihm das zu guter Letzt ja auch bei seinem Schüler, der natürlich ebenfalls die beste Version seiner Selbst sein möchte. Also ist Terence Fletcher keineswegs ein Antagonist, allerdings sind ihm alle Mittel recht und seine Methoden sind überaus fragwürdig. Der psychische Terror den er ausübt schlägt stark über die Stränge und führt sogar dazu, dass sich seine Schüler selber Schaden zu fügen. Fletcher vereint damit definitiv einige Charakterzüge eines Antihelden und ist auf jeden Fall einer der interessantesten ambivalenten Figuren der letzten Jahre.
Riders of Justice – Helden der Wahrscheinlichkeit (2020)
Oder doch lieber „Antihelden der Wahrscheinlichkeit“? Anders Thomas Jensen, Regisseur und Drehbuchautor des Films, ist bekannt für seine eigenwilligen Antihelden und so bildet er hier gleich ein ganzes Team um Hauptfigur Markus. Dieser ist überzeugt davon, dass das tödliche Zugunglück seiner Frau kein Unfall war und macht sich auf die Suche nach den Verantwortlichen. Ohne jemals wirklich handfeste Beweise einzuholen, geht er dabei auf einen rambo-esken Rachefeldzug gegen mögliche Täter und der Film ergründet dabei, dass der Mensch in Extremsituationen stets nach einer Erklärung und einer Lösung sucht, um seiner Existenz und seinem Handeln noch einen Sinn und eine Rechtfertigung zu geben. Für die Trauerbewältigung eines Menschen ist es schließlich einfacher, sich die Antwort auf eine lebensverändernde Frage zurechtzulegen, als keine Erklärung für den Verlust zu bekommen.
Memento (2000) – Leonard Shelby
Ähnliche Erkenntnisse trifft tatsächlich auch „Memento“. All zu viel kann ich zu dem Film aber leider nicht sagen, ohne ihn komplett zu spoilern. Daher halte ich mich kurz. Leonard Shelby möchte den Vergewaltiger und Mörder seiner Frau ausfindig machen und sich an ihm rächen. Dazu sind ihm alle Mittel recht und schließlich sucht auch er wiederholt nach einer Rechtfertigung für seine Taten und immer wieder auf ein Neues nach einem Antrieb.
Wie meine Recherche ergeben hat, ist es tatsächlich gar nicht so einfach, einen Antihelden eindeutig zu definieren. Klar wird man immer wieder auf alte Definitionen stoßen, doch durchstöbert man die vielen Listen über Antihelden in Filmen, merkt man relativ schnell, dass sie mit dem Antihelden im herkömmlichen Sinne nicht immer wirklich viel zu tun haben. Entweder sind die Definitionen also veraltet oder der Begriff des Antihelden wurde mit der Zeit auch immer häufiger zweckentfremdet oder wie ich mir vorstellen kann, trifft wahrscheinlich beides zu. Doch da ich bei so etwas nie wirklich ein Fan von engen, starren Definitionen bin, wollte ich einfach gerne über den modernen Antihelden sprechen, der diesen Begriff erweitert und die Definitionsgrenzen auflockert. Da dieser Beitrag aber eigentlich kein Versuch einer Definition darstellen sollte, sondern lediglich eine Veranschaulichung dessen, wie vielfältig Antihelden (oder Charakteransätze eines solchen) heutzutage zum Einsatz kommen, wollte ich zumindest eine kleine Erklärung abhalten, um Missverständnisse zu vermeiden. Ich habe mich hier der Einfachheit halber an eine sehr weitgefasste, persönliche Definition gehalten, in der Antihelden ambivalente Figuren sind, die die moralischen Grenzen zwischen Protagonist und Antagonist verschwimmen lassen. Beispielsweise können sie unmoralische Methoden verwenden um moralisch nachvollziehbare Ziele zu verfolgen.
Ich kann deiner Argumentation durchaus folgen, Fletcher in diese Auswahl aufzunehmen. Ich persönlich würde ihn jedoch nicht als Antihelden sehen. Dafür fehlen ihm wie ich finde die positiven Absichten. Er versucht natürlich schon, das Beste aus seinen Schüler*innen rauszuholen. Allerdings tut er das meiner Meinung nach aus rein egoistischen Gründen. ER will derjenige sein, der den nächsten großen Star gefunden und geformt hat. Ein Antiheld wäre er nur dann, wenn er uneigennützig das Beste für die ihm anvertrauen Musiker*innen will und sich blöderweise in den Methoden vergreift. Aber das ist auf jeden Fall eine Frage wie man die Figur liest und interpretiert.
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Ja auf das Argument bin ich auch gestoßen und hätte ich dann eher verwendet, wenn ich für ihn als Bösewicht argumentiert hätte 😀
Natürlich macht der Film deutlich, dass er das aus rein egoistischen Gründen tut, aber es bleibt nun mal eine Bereicherung für die Allgemeinheit und im Grunde möchte Andrew ja dasselbe Ziel erreichen und der nächste Buddy Rich werden, auch wenn man da natürlich ebenfalls hinterfragen könnte, wie stark er da von Fletcher beeinflusst wurde.
Ich hab mich daher auch eher darauf beschränkt, dass Fletcher bloße Charakterzüge eines Antihelden immer wieder aufweist, auch wenn es nicht eindeutig ist. Aber generell fand ich es unglaublich schwierig, weil ich auch diese Definition im Internet gefunden habe, dass der Antiheld für das Allgemeinwohl und uneigennützig handelt, dann wiederum zahlreiche Beispiele gefunden habe, auf die das nicht völlig zutrifft, bzw: oft haben Antihelden ja eine ganz eigene Sicht darauf, was für sie dem Allgemeinwohl beiträgt. Bestes Beispiel ist Louis Bloom. Der handelt rein egoistisch und bereichert höchstens aus seiner Sicht die Allgemeinheit mit seiner Berichterstattung, die ja schon in sich fragwürdig ist. Ich habe selbst den Joker bei einigen Aufzählungen von Antihelden gefunden und auch hier ist es wieder eine extrem subjektive Perspektive, schließlich möchte er die Gesellschaft grundlegend aufbrechen und verändern. Leider bin ich erst gegen Ende der Fertigstellung meines Beitrags auf einige Ungereimtheiten beim Begriff des „Antihelden“ gestoßen, da sich diese Figuren in vielen Grauzonen bewegen wäre das natürlich auch eine spannende Erörterung, aber ich wollte nicht meinen ganzen Beitrag übern Haufen werfen und mich dann auch nicht allzu lange dran aufhalten.
Hat Michael Corleone das Allgemeinwohl im Sinn? Spätestens im zweiten Teil bin ich mir da ja nicht mehr so sicher, aber vielleicht habe ich den auch nicht mehr gut genug in Erinnerung.
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Ich würde die Sache mit dem Allgemeinwohl gar nicht so hoch hängen. Viel wichtiger finde ich, dass die Figur so angelegt ist, dass man als Zuschauer/in irgendwie doch noch mit dem (Anti)helden mitfiebert, obwohl man weiß, dass er/sie etwas Falsches tut.
Das trifft auf Fletscher nicht zu. Auf Michael, den Phoenix-Joker oder selbst Bloom hingegen schon. Und sei es nur weil man hofft, dass die Figur nicht vollkommen ins Verderben abrutscht und die Kurve irgendwie noch bekommt. Denn eigentlich ist es doch ein ganz netter Kerl…
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Okay mit dem Argument kriegst du mich sogar mehr und muss ich zustimmen!
Ist aber eben auch viel Auslegungssache und persönliche Wahrnehmung. Beispielsweise hat mir Der Pate 2 schon nicht mehr so gut gefallen, gerade weil es mir schwer fiel, mich mit Michael zu identifizieren.
Wahrscheinlich hängt bei Filmen mit Antihelden auch vieles damit zusammen wie man ihn findet, je nachdem wie gut man sich in die Figuren hineinversetzen kann. Dadurch, dass sie immer ambivalent sind, liegt es auf der Hand wenn man einmal mit einem Antihelden nicht so warm wird. Deswegen mag ich „Taxi Driver“ auch nicht so besonders, der aber ja schon so etwas wie der Prototyp eines Antihelden ist. Da steht und fällt eben der Film damit, wie gut jeder mit der Figur klarkommt.
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Perfekt zusammengefasst.
„Ist aber eben auch viel Auslegungssache und persönliche Wahrnehmung. Beispielsweise hat mir Der Pate 2 schon nicht mehr so gut gefallen, gerade weil es mir schwer fiel, mich mit Michael zu identifizieren.“
Ich mag „Der Pate“. Allerdings nicht so sehr wie viele andere und ich habe schon oft darüber nachgedacht warum das so ist. Ich glaube es ist genauso wie du sagst. Wenn es dir schwerfällt, dich mit einem Protagonisten zu identifizieren, was bei mir mit Michael schon im ertsen Teil der Fall war, wird es insgesamt mit dem FIlm eng.
„Dadurch, dass sie immer ambivalent sind, liegt es auf der Hand wenn man einmal mit einem Antihelden nicht so warm wird.“
Da würde ich noch ergänzen, dass Antihelden nicht immer ambivalent sein müssen. Es können auch einfach Figuren sein, die nicht dem klassischen Bild eines HElden entsprechen. Sei es weil sie tollpatschig, dumm, schwach oder was auch immer sind. Ich denke da an Forrest Gump, Goofy, Jack Sparrow usw. Wobei Sparrow durchaus auch ambivalent ist.
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Goofy wär definitv mein Platz 1 der Antihelden
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Ich finde die Definition von Antiheld tatsächlich arg schwieirg. Wo hört der Antiheld auf und fängt der Protagonist an, der schlicht ein Arschloch ist? Tony Soprano etwa würde ich nicht als „Antihelden“ bezeichnen. Er ist ein Verbrecher, Mörder und allgemein ein Mistkerl. Aber dennoch hat man nach X Staffeln eben doch eine gewisse Sympathie für ihn. Weil er ja irgendwo auch seine guten Seiten hat. Und weil er von James Gandolfini verkörpert wurde.
Aus gleichem Grund würde ich Louis Bloom nicht als Antihelden einordnen. Das einzig „Positive“, was man ihm zuordnen könnte wäre sein wirtschaftlicher Erfolg.
Auch Michael Corleone hört (für mich) spätestens mit dem Ende des ersten Films, wenn sich die Türen krachend vor seiner Frau schließen, auf ein Anti-Held zu sein und er wird zum „Flawed Protagonist“ (ich finde keine wirklich griffige Übersetzung).
Aber kommen wir doch mal aus einer ganz anderen Richtung: wäre Anakin Skywalker in Ep. I (und nur da) ein Antiheld? Rettet den Tag, ohne wirklich zu wissen, was er eigentlich tut. 😉
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